Minderheiten und Migrationsphänomene

1. Im Fokus der geplanten Konferenz sollen religiöse und ethnische Minderheiten innerhalb eines Staatsgefüges stehen. Da solche Bevölkerungsteile oftmals Migrationshintergrund aufweisen, gilt auch diesem Phänomen gesteigerte Aufmerksamkeit. Dabei muss betont werden, dass die Antragsteller „Minderheit“ keineswegs nur als benachteiligte soziale Randgruppe auffassen, sondern das Interesse auch jenen Fällen gilt, in denen eine zahlenmäßig unterlegene Gruppe eine privilegierte oder herrschende Schicht darstellt. Dies kann etwa dann vorkommen, wenn ihre Vertreter der Leitkultur angehören oder die Invasoren eines eroberten Gebietes sind.

Durch das Symposium sollen einerseits die Merkmale deutlich werden, die bestimmte Minderheiten und deren Identitäten auszeichnen, sowie andererseits bestimmte Parameter, die bei der Beurteilung einer Minderheit von Bedeutung sind — wie z.B. den Grad der Assimilierung, Akkulturation und Ausgrenzung, aber auch eine eventuelle Beeinflussung und Prägung der Umwelt —, herausgearbeitet werden. Hinsichtlich des geographischen Rahmens sollen die Vorträge zum Großteil den Mittelmeerraum und den Vorderen Orient abdecken. Für den Untersuchungszeitraum gibt es keine Beschränkungen: Er reicht von der Antike bis in die Neuzeit. Nur für die betreffende Kultur wird vorausgesetzt, daß sie schriftliche Quellen produziert hat, da nur sie zur Beantwortung unserer Fragestellungen herangezogen werden sollen. Die breite Herangehensweise ermöglicht es, einen interdisziplinären und vergleichenden Zugang zu „Minderheiten und Migrationsphänomene“ herzustellen.

2. Die Erforschung von Minderheiten und Migration erfreut sich im Kanon der historischen und politikwissenschaftlichen Disziplinen stetig wachsender Beliebtheit, allen voran die Erforschung des Judentums und der Diaspora, die auch innerhalb der Tagung ein zentrales Thema sein wird. Daß Minderheiten und Migration heute vor allem in den westlichen Staaten ein vieldiskutiertes Thema sind, liegt sicher daran, daß diese Phänomene, die zuvor vielleicht eher Randerscheinungen waren und marginalisiert wurden, in den letzten Jahrzehnten eine ungeahnte Eigendynamik entwickelten. Aus der Sichtweise der europäischen Industriestaaten genügt es, auf die Migration aus den ehemaligen Ostblockstaaten und der Türkei hinzuweisen, die die Politik vor völlig neue Aufgaben stellt. Im Fall der türkischen Migranten kommen erschwerend die immer wieder aufkeimenden Spannungen zwischen Christentum und Islam hinzu, die von den Medien oftmals künstlich beschworen und auch von populistischen Parteien für den Stimmenfang mißbraucht werden. Aber trotz der Brisanz und des Gegenwartsbezuges des Themas ist ein diesbezüglicher Gedankenaustausch zwischen der Alten, der Mittelalterlichen und Neuen Geschichte sowie der Politikwissenschaft noch ausgeblieben. Doch sind es nicht allein diese Fachbereiche, die zur Klärung der gestellten Problematik beitragen können. Vielmehr ist momentan auch für ganz andere Forschungszweige ein gesteigertes Interesse an Minderheiten und Migration festzustellen. Dementsprechend sollen bei der Tagung auch Vertreter der Assyriologie, Semitistik, Turkologie, Theologie, Islamwissenschaften, Iranistik, Slavistik, Osteuropaforschung, Soziologie, Rechtswissenschaften und eben des Spezialgebietes der Antragsteller, der Papyrologie[1], zu Wort kommen, um ihre Sichtweise zu präsentieren und zu neuen Ansätzen anzuregen. Die unterschiedlichen Forschungsbereiche der TeilnehmerInnen führen zu einer Gliederung des Symposiums in fünf Sektionen, und zwar Sprache, Religion, Ökonomie, Kultur und Recht-Soziologie.

3. Hier einen vollständigen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu der Beschäftigung mit Minderheiten und Migration zu geben, ist aufgrund der Fülle der beteiligten Fächer und der damit einhergehenden vielfältigen Betrachtungsweisen freilich unmöglich[2]. An dieser Stelle sei vor allem auf einige aktuelle Forschungsprojekte verwiesen, um die Tendenzen der Wissenschaft aufzuzeigen. An erster Stelle sind folgende in Heidelberg beheimatete Projekte zu nennen, und zwar „Ritualtransfer bei marginalisierten religiösen Gruppen in islamischen Gesellschaften des Vorderen Orients und in der Diaspora“ (Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients[3]) und „Barrieren – Passagen. Jüdische Eliten, Religionsgesetz und die Gestaltung des Minderheiten-Mehrheiten-Verhältnisses zwischen Juden und Nicht-Juden auf der Iberischen Halbinsel)“ (Hochschule für Jüdische Studien[4]). Für diese Forschungsvorhaben könnte das geplante Symposium eine geeignete Plattform darstellen. Nicht unerwähnt soll auch der SFB 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zu Gegenwart“ (Universität Trier) bleiben. Hinsichtlich Integrationsforschung auf rechtlicher und ökonomischer Basis muß das Europa-Kolleg Hamburg genannt werden, das dem Symposium entscheidende Impulse geben könnte. Dasselbe gilt für das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Universität Osnabrück), welches in Bezug auf soziologische Fragen unbedingt zu einzubinden wäre.

4. Die Publikation der während des Symposiums erarbeiteten Ergebnisse würde zwar lediglich ein (weiteres) Kompendium verschiedener Einzelstudien liefern und sich darin nicht von anderen schon erschienenen, thematisch ähnlichen Sammelbänden unterscheiden[5]. Aber immerhin wäre ein erster Schritt in Richtung einer umfassenden Darstellung des komplexen Themenkreises „Minderheiten und Migration“ gemacht. Deswegen würde der Tagungsband zweifellos eine Sonderstellung in der Literatur einnehmen und zu weiteren komparativen Studien anregen.

5. Die spezifischen Fragestellungen, die im Rahmen des Symposiums behandelt werden sollen, finden ihren Niederschlag in den zuvor erläuterten Sektionen. Es geht um die Bedeutung der Sprache und Religion für die Wahrnehmung, Konstruktion oder als Ausdrucksform einer Minderheit. Unter den Rubriken Ökonomie und Kultur ist die Stellung zu beleuchten, die eine Minderheit im wirtschaftlichen oder sozio-kulturellen Gefüge eines Staates einnimmt: Wie und bis zu welchem Grad bindet sie sich in die umgebenden Strukturen ein, verändert sie diese gar, oder zieht sie sich zurück und führt ein Eigenleben? Die Sektion Recht-Soziologie soll die Problemstellung schließlich von einem theoretischen Blickpunkt betrachten und Definitionen für sowie juristische Reaktionen auf Minderheiten darlegen. Lassen sich vielleicht Grauzonen im Umgang mit diesen Bevölkerungsteilen oder manchmal vielleicht sogar ein grundlegender Unterschied zwischen Theorie und Praxis erkennen? Die Vernetzung der einzelnen Sektionen wird dadurch gewährleistet, daß alle TeilnehmerInnen im Rahmen der Vorträge folgende Fragestellungen thematisieren soll: Was unterscheidet die jeweilige Minderheit von der „Mehrheit“, wie verhält sich jene in der „Fremde“ und wird von dem „Gegenüber“ wahrgenommen? Es sollen also Muster für die Bewertung des Einzelfalles erarbeitet werden, um diese zueinander in Bezug setzen zu können. Da jede Sektion Beiträge zu Antike, Mittelalter und Neuzeit vereint, werden neben der Möglichkeit eines strukturellen Vergleichs zusätzlich auch chronologische Anknüpfungspunkte gegeben. Programm

Kontakt:
Dr. Rodney Ast / Dr. Patrick Sänger
Institut für Papyrologie
Marstallstr. 6
69117 Heidelberg
Telefon: +49 (0) 6221 54 2334 o. 54 3379
E-Mail: ast@zaw.uni-heidelberg.de
Patrick.Saenger@zaw.uni-heidelberg.de

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Letzte Änderung: 04.11.2011
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