Acquired Taste: Reading and the Uses of Literature in the Age of Academic Literary Studies

Die Fachkonferenz widmet sich den institutionellen Bedingungen literarischen Lesens, insbesondere der Frage, wie sich diese Bedingungen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts in den USA auf markante Weise verändert haben. Während sich die Produktion literarischer Autorität vor 1900 weitgehend in einer breit gefächerten Sphäre der Öffentlichen mit hochkultureller Prägung abgespielt hat (Opern, Museen, literarische Netzwerke und Avantgarden) kam es mit der Ausweitung der Universitäten im zwanzigsten Jahrhundert (insbesondere nach dem 2. Weltkrieg) zu einer Akademisierung des kulturellen Feldes, die auf das Spektrum gesellschaftlich anerkannter Formen des literarischen Lesens einen maßgeblichen Einfluss ausgeübt hat. Diese Fachkonferenz soll diese Veränderungen aus einer sozio-institutionellen Perspektive betrachten und sich dabei u.a. folgende Fragestellungen erörtern: Welche Lesehaltungen und Lektürepraktiken („uses of literature“) erhalten besondere Legitimität bzw. welche institutionellen Orte tragen maßgeblich zum Prozess der Legitimation bei? Welche Rolle spielen dabei die verschiedenen historischen Phasen der Akademisierung des literarischen Raums und seiner autorisierenden Institutionen? Genauer: Wie hat sich die Erweiterung und Demokratisierung universitärer Bildungsinstitutionen in den USA seit 1900 – und insbesondere im Zuge der Öffnung tertiärer Bildungsinstitutionen durch die so genannte G.I. Bill (1944) – auf die Autorität verschiedener Lektürepraktiken ausgewirkt?

Darstellung des Tagungskonzepts
Der Fokus der Konferenz liegt auf der wandelnden Funktion verschiedener Lektürepraktiken im Kontext eines sich verändernden Raums literarischer Autorität. Die Unterscheidung von ‚guten’ und ‚schlechten’ Lesern ist zwar bereits für die literarischen Manifeste des achtzehnten Jahrhunderts zentral und zeigt sich insbesondere in dem scharfen Gegensatz zwischen ‚hohen’ und ‚niederen’ Lesekulturen, der sich während der Industrialisierung des Buchmarktes zwischen 1850 und 1900 verfestigt hat. Dennoch bringt die Akademisierung des literarischen Raums (wie sie etwa von John Guillory, Gerald Graff und David Shumway für das frühe zwanzigste Jahrhundert, von James English und Mark McGurl für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wissenschaftshistorisch beschrieben wurde)  eine neue Qualität in die institutionelle Hierarchisierung literarischer Kulturen: Die älteren, dezidiert schichtenspezifischen Differenzierungen der Leserschaft („high-brow“/low-brow), die weitgehend mit der Herausbildung einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit entstanden waren, werden im Zuge der Akademisierung des Literarischen von einer funktional ähnlichen aber weniger polarisierenden Differenz überformt, die auf der Unterscheidung zwischen Laien und professionellen Lesern basiert („lay readers“ und „professional readers,“ in John Guillorys Formulierung). Im Gegensatz zu den älteren Begriffspaaren (z.B. „gentleman poet“ vs. „commercial hack“), die ihre performative Kraft vor allem innerhalb literarischen Eliten entfalteten, ist die Differenz zwischen Laien und professionalisierten Lesern im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts in eine gesamtgesellschaftliche Wahrnehmungsstruktur übergegangen (mit Raymond Williams gesprochen wurde sie Teil einer kulturellen „structure of feeling“). Entsprechend ist es heute – im Zeitalter einer maßgeblich von akademischen Netzwerken geprägten Produktion literarischer Legitimität – möglich, mit gutem Gewissen „profane“ Lektürehaltungen zu praktizieren, die dem Selbstverständnis des lay readers entsprechen (etwa das Lesen zum Vergnügen, zur „Erbauung", Weiterbildung oder therapeutischer Läuterung) und gleichzeitig den Wert ‚höherer’ Lektürehaltungen anzuerkennen (etwa das Lesen zum Zweck theoretischer Erkenntnis oder dezidierter „Interesselosigkeit“, etc.), die in einem charismatisch aufgeladenen (sakralisierten) Raum professioneller (d.h. universitärer, akademischer) Autorität verortet wird. Durch die zunehmende Akzeptanz einer Gleichzeitigkeit von privaten und professionellen Formen literarischer Kommunikation hat sich das Spektrum legitimer Lektürepraktiken erheblich erweitert, aber auch zu neuen Bewertungsökonomien geführt, auf Grund derer Lektürehaltung mit sozialem Prestige und kultureller Autorität aufgeladen werden.
Wie Mark McGurl in seiner richtungsweisenden Studie zur literarischen Kultur der Nachkriegszeit gezeigt hat (The Program Era, 2009), liegt diesen Entwicklungen die Veränderung der Bildungslandschaft des 20. Jahrhunderts zugrunde. Der Ausbau und die Demokratisierung der amerikanischen Universitäten habe ein universitäres Patronage-Systems hervorgebracht (durch die Etablierung von sozioprofessionellen Netzwerken zwischen Verlagshäusern, akademischen Literaturkritikern und nicht-kommerziellen Schriftstellern, die als creative-writing Professoren beschäftigt sind) dessen strukturelle und ökonomische Kraft zur immensen Pluralisierung des amerikanischen literarischen Feldes maßgeblich beigetragen hat. Die für das Massenpublikum der Nachkriegszeit eingerichteten universitären Schreibwerkstätten und Literaturseminare konnten sich dadurch zu Kontaktzonen verschiedener Lesehaltungen entwickeln, in denen etwa die „therapeutischen“ Lesekulturen klassischer Institutionen des „middlebrow“ (von den book clubs der Jahrhundertwende zum Phänomen Oprah Winfrey) mit experimentellen Lektürehaltungen in den Dialog traten, die durch die zunehmende Institutionalisierung modernistischer Literatur zwischen 1930 und 1950 einem breiteren Publikum zugänglich wurden. Gleichzeitig hat die institutionelle Erweiterung des literarischen Feldes nicht zur Neutralisierung sondern eher zur Verstärkung von Wertehierarchien geführt: Im Gegensatz zu den multikulturalistischen oder postmodernistischen Befreiungsnarrativen der 1960er und 1970er Jahre hat die Pluralisierung der Nachkriegsliteratur nichts an der Zentralität der “high/low distinction“ (McGurl 42) geändert, die an verschiedenen Stellen im literarischen System zum Tragen kommt und sowohl populäre wie auch experimentelle Literatur- und Lektürepraktiken anhand verschiedener Werteskalen hierarchisiert.
Auf der Fachtagung sollen die obengenannten Prämissen geprüft bzw. anhand spezifischer Beispiele konkretisiert und weiterentwickelt werden. Zentrale Fragestellungen sind etwa: Welche Wertehierarchien haben sich zur Legitimation von Lektürehaltungen etabliert (z. B. akademisch/middlebrow, „genaues“/oberflächliches Lesen, reading for plot/reading for form; reflexives/konsumierendes Lesen, kreatives/schematisches Lesen; kritisches/naives Lesen; ethisch-politisches/ ästhetisches Lesen, usw.)? Inwieweit lassen sich Lesekulturen spezifischen Praxisfeldern bzw. spezifischen sozialen Orten zuordnen? Wie verhalten sich Vorstellungen legitimen Lesens zu institutionellen Zuschreibung kultureller Autorität (also zur Frage, welche Arten von „verkörpertem Geschmack“ mit dem kulturellen Zentrum der Gesellschaft assoziiert wird)? Inwieweit haben die institutionellen Entwicklungen in der Universitätslandschaft zu Evolution einer „Reading Class“ (Wendy Griswold) geführt? Wie hat sich das Verhältnis zwischen akademischen und außerakademischen literarischen Institutionen entwickelt? Wie werden bestimmte Lesepraktiken (close reading/distant reading, formalistisches/politisches Lesen, etc.) etabliert und konsekriert, wie gelangen sie von der Universität zu einer breiteren Öffentlichkeit?

 

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Letzte Änderung: 04.06.2013
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