Titelbilder als Gesicht des Handschriftenkörpers

Viele Kulturpraktiken sowohl des europäischen als auch außereuropäischen Bereichs lassen erkennen, dass Bücher als körperliche Objekte verstanden werden, die Teil sowohl individueller als auch gesellschaftlicher Interaktion sind. Bücher als Heilmittel, mit apotropäischer Wirkkraft, im buchstäblichen Sinn inkorporierte Bücher sowie intensive physische Beziehungen zu Büchern belegen auf der individuellen Ebene das Verständnis des Buches als Körper. Rechts- und Liturgiegebräuche bezeugen eindrucksvoll die körperliche Präsenz des Buches, das nicht selten für eine Person oder Institution stellvertretende Rechtsgültigkeit besitzt. Dass der Buchkörper mit dem menschlichen Körper gleichgesetzt wird, ist an manchen heute noch verwendeten Begriffen nachzuvollziehen, wenn etwa von „Buchrücken“, „Kopfzeilen“ und „Fußnoten“ die Rede ist.

Mittelalterliche Autoren haben das Buch immer wieder metaphorisch mit dem Körper verglichen und dabei auch dessen Entfaltung, Bewegung und Übermittlung im Blick gehabt. Zur Steigerung der Aura dieses Buchkörpers dienten kostbare Stoffe, in die er eingewickelt wurde, vor allem aber Einband und Titelblätter. Wie wichtig heute noch die Titelgestaltung ist, zeigen die großen Bildagenturen, die Vorlagen zur Covergestaltung liefern. Während im Buch des 20. und 21. Jahrhunderts die Bilder auf den Einbänden vor allem als Informations- und Werbeargument dienen, übernahmen in früheren Zeiten Buchdeckel und Titelbild unterschiedliche Funktionen. Kostbare Einbände – in der Handschriftenkultur nicht selten mit Goldschmiedearbeiten, Elfenbeinen und Reliquien besetzt – verliehen den im Buchkörper versammelten Schriften die ihnen angemessene Sakralität. Die Titelbilder, die den Texten, oft dem gesamtem Buch vorangehen, haben bis zu den Drucken der Frühen Neuzeit ganz andere und wesentlich vielfältigere Funktionen. Als Eingangsbilder gehören sie zunächst zu dem für die Leser und Benutzer sehr wichtigen Gliederungsapparat der Handschrift oder des Buches. Sie gehören gleichsam zum Kopf des Manuskriptes, leiten in dieses ein oder stellen das Gesicht des nachfolgenden Schriftkörpers dar. Wie auratisch deren Funktion gesehen wurde, lassen Titelbilder mit der Majestas Domini oder dem Schöpfungsakt erkennen, die dem Text universelle Gültigkeit verleihen. Ein ganz ähnliches Verständnis findet sich in der Frühen Neuzeit sicht- und greifbar umgesetzt, wenn etwa im Frontispiz für John Donnes Gedichtausgaben nicht nur ein „wahrhafter“ Porträtstich des Autors den Betrachter anschaut, sondern seine physische Präsenz im Buch, das hier als des Dichters Körper verstanden ist, durch das Einfügen von „Körperreliquien“ in Form von aus Briefen ausgeschnittenen Originalunterschriften bekräftigt wird (Marcus, 192 ff.) Gilt diese Auratisierung im 17. Jahrhundert dem Autor, so dient im Mittelalter das Titelbild oder nicht selten die als Diptychon angelegten Eingangsseiten dem Schriftkörper als Ganzem.

Das Symposion „Titelbilder als Gesicht des Handschriftenkörpers“ will die Metapher des Gesichtes aufgreifen und sich mit der Frage befassen, inwieweit das Titelbild den Umgang mit dem Schriftkörper definiert. Das Bild als Einführung in ein Buch lässt zwei unterschiedliche Wahrnehmungssysteme miteinander konkurrieren, zumal beim Lesen der Schrift in vielen Kulturen, aber vornehmlich in der mittelalterlichen, auch das Hören mitgedacht werden muss. Die Schriften werden gelesen und vorgelesen, also auch gehört. Das Bild wird gesehen und regt zum Verweilen, zum Schauen, nicht zum Weiterblättern an. Da sich die Lesekultur gerade im Bereich des privaten Lesens durch den Buchdruck entscheidend verändert, ist es sinnvoll nach der Funktion des Titelbildes in der handschriftlichen Tradition zu fragen. In wie weit sich dieses spannungsvolle Verhältnis der Schrift-Bild-Wahrnehmung, aber vor allem die Funktion von Titelbildern in anderen Kulturen.

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Letzte Änderung: 23.05.2018
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