Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Erzählungen bedürfen, um als zusammenhängende Einheit wahrgenommen und begriffen werden zu können, der narrativen Kohärenz und Konsistenz, das heißt einer in irgendeiner Weise ‚sinnvollen’ Verknüpfung ihrer Einzelbestandteile. Erzählungen müssen in diesem Sinne ‚logisch’ geordnet sein. Unsere – modernen – Erwartungen an die logische Kohärenz und erzählerische Konsistenz eines Textes gehen dabei in aller Regel von einer kausal und/oder psychologisch stimmigen Motivation von Handlung aus. Diese Erwartungen an eine kausal-psychologische Geschehensmotivation werden in mittelalterlichen Erzählungen jedoch immer wieder frustriert. Mittelalterliche Texte weisen ‚Löcher’, ‚Leerstellen’ und Widersprüche auf, ihre Motivationsstrukturen zeigen Inkohärenzen und Redundanzen, die modernen kausalen oder psychologischen Plausibilitätserwartungen widersprechen. Man hat deshalb für mittelalterliche Literatur geltend gemacht, daß ihr andersgeartete und je eigene Logiken des Erzählens zugrunde lägen, und darin ein weiteres Phänomen jener historisch-kulturellen Distanz zwischen Mittelalter und Moderne erblickt, die mit dem Begriff der Alterität spätestens seit den 1990er Jahren auch in der germanistischen Mediävistik zu dem Paradigma für die Beschreibung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Textproduktion geworden ist. Ob und inwieweit das zutrifft und welche Arten narrativer Logik für vormoderne Narrationen anzusetzen sind, ist jedoch strittig.

Unsere Tagung will daher dazu einladen, für einen Zeitraum, der sich bis etwa in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erstreckt, die je spezifischen Logiken des Erzählens zu beschreiben, die ‚alter’ Textproduktion zugrunde liegen. Mit diesem weitgefaßten Zeitrahmen ist die Tagung auch offen für Beiträge aus angrenzenden Disziplinen wie der klassischen Philologie oder der Frühneuzeitforschung, jedoch soll der Fokus auf mittelalterlichen Texten liegen. Erwünscht ist eine Verbindung narratologischer Herangehensweisen mit neueren Ansätzen aus der literarischen Anthropologie, der narrativen Psychologie und der Kognitionsforschung, so daß sich aus der Tagung auch in methodischer Hinsicht neue Perspektiven für den Umgang mit ‚alten’ Texten ergeben. Ziel ist, durch exemplarische Analysen der logischen – und das heißt eben nicht nur: kausallogischen – Verknüpfung von Erzählelementen in narrativen Texten einen Beitrag zur Erforschung mittelalterlich-frühneuzeitlicher Modi der Sinnerzeugung und Weltwahrnehmung im Medium der Literatur zu leisten.

 

Pressemitteilung 08. Juni 2012 – Nr. 138/2012:
VolkswagenStiftung fördert Heidelberger Germanisten
Der Heidelberger Mediävist Dr. Christian Schneider hat für sein Habilitationsprojekt ein mit 80.000 Euro dotiertes Postdoctoral Fellowship der VolkswagenStiftung erhalten. Mehr...

 

Dr. Christian Schneider
Univerität Heidelberg
Germanistisches Seminar
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69117 Heidelberg
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E-Mail: christian.schneider@gs.uni-heidelberg.de

Dr. Florian Kragl
Universität Wien
Institut für Germanistik
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Letzte Änderung: 11.06.2012